Zum Zeitunglesen in den Keller

"Lektüretausch" in der östlichen Bahnhofsunterführung
"Lektüretausch" in der östlichen Bahnhofsunterführung

Die Stadt lädt zum gesponserten Zeitunglesen ein - in die östliche Bahnhofsunterführung.

(Lesezeit: 4 Minuten)

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Ob das jetzt ein Schildbürgerstreich ist? Man weiß es nicht. In großen Worten, mit Bürgermeisterin und Vertretern der beiden großen Tageszeitungen Pforzheims wird heute ein „offenes Zeitschriftenmagazin“ zum „Lektüretausch“ eingeweiht, als „Tauschbörse für Zeitungen und Zeitschriften“. Das soll „gemeinsam mit den modern gestalteten Sitzkuben zum neuen Herzstück“ werden, wie es in der Mitteilung der Stadt steht. Erst einmal eine tolle Sache, vor allem in Zeiten, in denen immer weniger Menschen Zeitung lesen und auch erschreckend schlecht über Geschehnisse in der eigenen Heimatstadt informiert sind.

Der Schildbürgerstreich dabei? Nun, eingeweiht wurde diese gar nicht so sinnlose Idee nicht etwa auf dem Marktplatz, dem Leopoldplatz oder dem pittoresken Schlosspark, wo man so eine Einrichtung vermuten würde, sondern – Achtung, kein Recherchefehler – in der östlichen Bahnhofsunterführung.

Genau: Nicht davor, nicht dahinter, nicht darüber, sondern mittendrin in der östlichen Bahnhofsunterführung zwischen den Gleisen 4 und 5 und einem der wirklich düstersten Ecken der Unterführung. Wo kein Tageslicht hinkommt, noch nicht einmal ein Ticketautomat der Bahn vor sich hinbrummt und es immerhin beim gemütlichen Hinsetzen relativ egal ist, ob es Tag oder Nacht ist, hell oder dunkel, die Sonne scheint oder es wolkig ist. Zwar sorgt eine „neu installierte helle Beleuchtung im Bereich um die Treppenaufgänge zu den Gleisen 4 und 5“ nun für etwas mehr Erhellung, aber duster ist es auch weiterhin. Die mit Kaninchengitter abgesperrte Decke zur Taubenabwehr vermag das Elend noch zu unterstreichen.

Zum Zeitunglesen lädt die Stadt nun also stolz in den Keller. Ist es nun schon so schlimm geworden?

Und so richtig unglücklich scheint man auch gar nicht zu sein, so der Dank von Bürgermeisterin Sibylle Schüssler an die Vertreter der sponsernden Zeitungen: „Ihre umgehende Bereitschaft, unser offenes Zeitschriftenmagazin zu bestücken, ist von großer Symbolkraft. Dieser gelungene Auftakt wird mit dazu beitragen, dass unsere Gestaltungsmaßnahmen die Bahnhofsunterführungen dauerhaft räumlich aufwerten und die Aufenthaltsqualität steigern.“

„Lektüretausch“ in der östlichen Bahnhofsunterführung (Unordnung nicht durch uns)

Jetzt bitte nichts gegen unsere Bahnhofsunterführungen, es gibt in der Republik wirklich schlimmere. Viel schlimmere. Gegen einen vernünftig benutzten Berliner U-Bahnhof sind unsere Bahnhofsunterführungen geradezu keimfreie Reinräume. Das ist gut so und wird auch täglich hart durch Reinigungskräfte erkämpft. Nur: Auch besenrein saubere Bahnhofsunterführungen sind keine gemütlichen Wohlfühloasen. Wer will sich selbst in einen Reinraum-Keller hineinsetzen, um dort gemütlich Zeitung zu lesen? Und die verbundene Frage: Wie lange werden wohl nach der mutmaßlich täglichen Bestückung von Tageszeitungen da noch welche sein, wenn die meisten Passanten zwar die Idee des „Zeitschriftentausches“ lesen, aber eher an ein kostenloses Abo für die Schnellsten denken dürften?

Doch eigentlich ist alles noch viel grausamer: Wer jetzt einen Reisenden vom Bahnhof abholt und ihn durch die Bahnhofsunterführung durchschleusen will, wird die peinliche Frage beantworten müssen, warum es in Pforzheim ausgerechnet in einer Bahnhofsunterführung eine Leseecke gibt und wer zum Geier dazu bereit sein könnte, genau dort eine Zeitung zu lesen.

Besim Karadeniz
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Besim Karadeniz (bka), Jahrgang 1975, ist Autor und Erfinder von PF-BITS seit 2016. Er ist beruflich selbstständiger Web-Berater und -Entwickler. Neben PF-BITS betreut er mehrere weitere Online-Projekte und kann auf einen inzwischen über 25-jährigen Online-Erfahrungsschatz zurückblicken. Neben der technischen Betreuung von PF-BITS schreibt er regelmäßig Artikel und Kolumnen und ist zuständig für den Kontakt zu Partnern und Autoren.