Ein Abend im Juli

Tornado-Gedenkstein am Wasserleitungsweg Pforzheim (Foto: Georg Waßmuth/Wikipedia)

In einem Gastbeitrag schreibt Andrea Lutz als Augenzeugin zum Tornado-Sturm am 10. Juli 1968.

(Lesezeit: 7 Minuten)

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Gastbeitrag von Andrea Lutz.

Den ganzen Tag über war es drückend heiß. Es war ein Mittwoch, dieser 10. Juli 1968, ich saß in der Schule an meinem Goldschmiedebrett und lötete was das Zeug hielt. Nicht gerade eine Arbeit, die bei einer solchen Wetterlage erstrebenswert war. Aber, ich hatte eine neue Einnahmequelle für mich entdeckt und fertigte aus Alpaka „Peace-Zeichen“ fast im Akkord. Jetzt mussten noch Ösen angelötet werden, um den Anhänger auf ein Lederband oder eine Kette ziehen zu können. Anschließend das Ganze polieren, fertig! Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, tropften herunter und verdampften zischend auf dem heißen Werkstück.

Ich schielte immer wieder auf die Wanduhr, deren Zeiger sich im Zeitlupentempo (so schien es mir), auf siebzehn Uhr zu bewegten. Endlich, der erlösende Gong! Unterrichtsende. Ich hatte keine Lust bergauf nach Hause zu laufen und ging lieber durch den an die Schule angrenzenden Park hinunter in die Innenstadt. Erst mal ein Eis essen, das tat gut! Anschließend holte ich meine Mutter von der Arbeit ab und fuhr mit ihr zusammen nach Hause. Nach dem Abendessen wartete noch eine wichtige Arbeit auf mich. Ich hatte am nächsten Tag Geburtstag. Zu diesem Anlass wollte ich meine Single-Schallplatten auf Kassette überspielen, denn am elften Juli war Party angesagt. Meine Party. Meine Musikauswahl! Dazu hatte ich mir extra ein Überspielkabel gekauft, um nicht ständig seltsame Hintergrundgeräusche, wie Hundegebell, schimpfende Wellensittiche und eine quengelnde, kleine Schwester als „Song-Zugabe“ hören zu müssen…

Kurz vor einundzwanzig Uhr beendete ich meine Musikaufnahmen mit „The Sound of Silence“ von Simon und Garfunkel. Dann ging ich mit dem Hund raus. Es war immer noch sehr schwül, kein Lüftchen regte sich. Seltsamerweise wollte unser Hund zurück ins Haus, was sonst nicht seine Art war. Er stand stocksteif wie ein störrischer Esel. Ich musste ihn förmlich hinter mir herziehen. Erst als ich den Rückweg von seiner gewohnten Gassi-Runde antrat, war er zufrieden. Wieder in der Wohnung angekommen, wurde es auf einmal draußen stockdunkel, so, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Im selben Moment ertönte ein gewaltiger Donnerschlag und es begann zu hageln. Erschrocken liefen meine Mutter und ich zum Fenster. Über der Dunkelheit machte sich ein schwefelgelber Himmel breit, Blitze zuckten und ein seltsames Pfeifen lag in der Luft. Das Pfeifen wurde lauter, kam näher und fast gleichzeitig hörte es sich an, als donnere ein Zug vorbei. Die Fenster begannen zu zittern und das Glas bog sich nach innen, zersprang aber nicht. So schnell wie das Unwetter kam, war es auch wieder vorbei. Wir wohnten damals in einem Hochhaus im Neubaugebiet „Haidach“. Vom vierten Stockwerk aus konnte man recht weit sehen. Ich ging auf den Balkon. Der war wie leergefegt. Papas Tomatenstöcke, die Blumenkästen, der Wäscheständer, der Schaukelstuhl – alles weg! Keine Straßenbeleuchtung erhellte das Dunkel. Ich sah Menschen mit Taschenlampen, in deren Lichtkegel ich Trümmer wahrnehmen konnte. Zusammen mit meinem Vater ging ich auf die Straße. Autos lagen teilweise übereinander getürmt auf den Grünflächen, das Dach des Nachbarhauses war nicht mehr vorhanden. Mehr habe ich in dieser Nacht nicht gesehen.

Das ganze Ausmaß der Katastrophe wurde erst in den Morgenstunden sichtbar. Und obwohl meiner Familie nichts passiert war, spürte ich die Erschütterung und das Entsetzen, das meinen Vater ergriffen hatte. Er sagte: „Gebäude und Dinge kann man ersetzen, egal wie teuer sie waren. Ein Menschenleben jedoch ist das Kostbarste und kann durch nichts und niemand ersetzt werden.“ Ich wusste, warum. Dieser Anblick erinnerte ihn an den Abend des 23. Februar 1945: Bei einem der folgenreichsten Angriffe des Zweiten Weltkriegs gingen in zweiundzwanzig Minuten Bomben im Gesamtgewicht von anderthalbtausend Tonnen auf Pforzheim nieder. Das fatale Gemisch aus Spreng-, Brandbomben und Luftminen führte schnell zu einem gewaltigen Feuersturm. Damals wurden zwei Drittel der Stadt zerstört. Am Tag nach dieser Heimsuchung war nichts mehr wie vorher. Alles kaputt, alles verloren. Doch das Schlimmste waren die vielen Toten. Das war erst dreiundzwanzig Jahre her. Damals waren Krieg und Menschen die Verursacher dieses großen Leides.

Heute hatte die Naturgewalt zugeschlagen. Ein Tornado der Stärke vier war über Pforzheim gerast und hatte in nur drei Minuten eine Schneise von sechshundert Metern Breite in die Stadt und das nähere Umland gepflügt. Während des Sturmes kamen zwei Menschen ums Leben. Über dreihundert wurden verletzt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte der Tornado die Stadt um eine Zeit erreicht, in der noch viele Menschen auf den Straßen unterwegs waren. Die schönen alten Bäume des Stadtgartens waren verschwunden, Kahlschlag! Wie viele Jahre das wohl dauern würde, bis der einstige Zustand wieder gewachsen war? Gefährlich war nicht nur der gewaltige Druck, den der Sturm ausübte, der sogar Laternenpfähle wie Streichhölzer knickte, sondern auch der nachfolgende Sog, der typisch für diese Art von Wirbelstürmen ist. Dort, wo auf einmal kein Dach mehr war, wurde der Hausrat aus den offen liegenden Zimmern in alle Winde verstreut. Persönliche Papiere mancher Mitbürger tauchten Kilometerweit weg wieder auf.

Der „Katastrophen-Tourismus“ setzte sehr früh ein. Ganze Busladungen voll mit Gaffern machten sich nach der Zerstörung auf den Weg. Deshalb wurde das Gebiet, in dem die meisten Schäden auftraten, weiträumig abgesperrt. Nur Anwohner, die sich ausweisen konnten und Hilfskräfte wurden durchgelassen. Auch die Goldschmiedeschule wurde in Mitleidenschaft gezogen. Fenster waren zerborsten und Bäume umgestürzt. Anstatt Unterricht war aufräumen angesagt. Einige Mitschüler und ich halfen in Neubärental einem unserer Lehrer wenigstens etwas Ordnung in sein Chaos zu bringen.

Es wurde zum Blut spenden aufgerufen. Ich durfte das noch nicht. Das Rote Kreuz gab täglich sechstausend kalte und warme Mahlzeiten aus. Das war eine große Hilfe für obdachlos gewordene Menschen und für die vielen Helfer. Die Aufräumarbeiten zogen sich über Wochen hin. Die nächsten Schultage waren wenig von Lernen geprägt. Trotzdem habe ich in diesen Tagen viel gelernt. Zum Beispiel, wie durch solch ein Unglück aus Fremden Freunde werden können und wie solidarisch eine ganze Stadt zusammenhalten kann.

Und nicht nur deshalb werde mich wohl immer an diesen Abend im Juli 1968 erinnern. Denn da endeten meine ersten sechzehn Lebensjahre mit einem gewaltigen Windstoß!

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